Eine provokante und doch interessante Frage, die ich gestern abend mit Dr. Peter Hilgard diskutierte. Im Folgenden ein ausführlicher Artikel dazu, in dem Peter Hilgard die Ansicht vertritt, dass Alkohol trotz seiner Risiken als Rauschmittel ein tief in der menschlichen Kultur verwurzelter uralter Bestandteil bleibt, dessen Konsum verantwortungsbewusst und individuell gehandhabt werden sollte, während staatliche wie moralische Bevormundung diesen individuellen Genuss nicht ersetzen kann.
Obwohl Goethe und Beethoven beide gerne Wein genossen, lässt sich natürlich nicht mit Sicherheit sagen, ob ihr Schaffen ohne Alkohol weniger kreativ oder erfolgreich gewesen wäre; Kreativität entspringt aus einer Vielzahl von Einflüssen wie Talent, Umfeld, Inspiration und persönlichem Erleben, sodass das gelegentliche Glas Wein nur ein kleiner Teil ihrer schöpferischen Gesamtleistung gewesen sein dürfte. Hier der Artikel von Peter Hilgard:
Die Meinung eines Weinfreundes zur gegenwärtigen Alkoholdebatte
Bei der Diskussion um die gesundheitlichen Aspekte des Alkoholgenusses wird meist ein, meiner Meinung nach, sehr wichtiger Punkt vernachlässigt, nämlich der Aspekt des Alkohols als Rauschdroge. Die Suche nach Bewusstseinsveränderung bzw. -erweiterung durch die Einnahme frei in der Natur verfügbarer Pflanzen, bzw. deren Extrakte mit entsprechender Wirkung, ist vermutlich so alt wie die Menschheit selbst. Ethnologen haben nachgewiesen, dass sich das Aufspüren halluzinogener Stoffe tatsächlich zurück in archaische Kulturen rund um den Erdball verfolgen lässt. Meskalin aus dem Peyotl-Kaktus und Psilocybin aus Pilzen sind Beispiele für die uralte, rituelle und profane Anwendung von Rauschmitteln. Neben vermeintlich medizinischer Wirkung fanden viele Pflanzenprodukte auch wegen ihrer psychoaktiven Eigenschaften in den europäischen Gesellschaften schon sehr früh Anwendung. Stellvertretend für solche Substanzen in unserem Kulturkreis sei das Opium aus dem Schlafmohn genannt, aber auch der Alkohol gehörte dazu. Dass sich letzterer in unserer Gesellschaft als Rauschdroge so fest etabliert hat, liegt zu einem großen Teil an der deutlich besseren Steuerbarkeit seiner Wirkungen und Nebenwirkungen im Vergleich zu den meisten anderen halluzinogenen Drogen. Aus pharmakologischer Sicht hat der Alkohol offensichtlich eine große „therapeutische Breite“. Die Dosisabhängigkeit seiner gewünschten und ungewünschten Effekte machte ihn gesellschaftsfähig, denn seine Wirkung ist weitgehend vom Konsumenten lenkbar und liegt daher uneingeschränkt in seiner individuellen Verantwortung. Die Psychologen sagen uns, dass keine Droge in der Lage sei, dem Menschen etwas zu geben, was nicht bereits in seinem Unbewussten vorhanden ist. Es besteht scheinbar das Bedürfnis vieler Mitglieder unserer Gesellschaft, dieses Unbekannte aus den Tiefen des Bewusstseins herauszuholen. Das ist nicht eine persönliche Marotte, sondern ein urmenschlicher Trieb. Es ist ja wohl kein Zufall, dass die gegenwärtig so massive Kritik am Alkoholkonsum mit einer Wiederauferstehung und teilweisen Legalisierung des Cannabis-Gebrauchs einhergeht. Rauschdrogen sind ein sehr ernst zu nehmender Faktor in unserer Kultur, da sie potentiell helfen, den Wunsch nach spiritueller Erfahrung zu erfüllen. Auch das in der Literatur und in der Musik häufig anzutreffende Motiv des “Wahnsinns“ (z.B. E.T.A. Hoffmann, Georg Büchner und F. Dostojewski sowie Gaetano Donizetti, Giuseppe Verdi und Alban Berg) mag mit dem Wunsch, in eine andere, alternative Bewusstseinssphäre einzutauchen, zusammenhängen. Wenn diese Faktoren dann mit hedonistischen Erfahrungen, wie Dichtung, Klängen oder Wein kombiniert werden, können sie für viele Menschen zu unvergesslichen Erlebnissen werden.
In den vergangenen Monaten wurde bekanntlich in den Tageszeitungen, im Fernsehen und Radio sowie in den sog. Sozialen Medien immer wieder, gleichsam holzhammermäßig, auf die Gesundheitsgefährdung durch Alkoholkonsum hingewiesen, u.a. auch in der „Neue Zürcher Zeitung“ (NZZ) vom 29.12.2023. Ich fand, dass die schriftliche Reaktion der Leser der NZZ das eigentlich Interessante an diesem Artikel war, der einen wahren Sturm der Entrüstung losgetreten hat. Der Autorin wurde vorgeworfen, sie habe „in jeder Zeile das moralische Nudelholz“ geschwungen, und Ausrufe wie „Wir brauchen keine woke Nacherziehung von selbsternannten Weltrettern!“ oder „Die schweizerisch-protestantische Pfefferminztee-Kultur ist noch schädlicher als der maßvolle Alkoholgenuss“ sind relativ harmlose Kritiken an der Verfasserin des Artikels. „Kein Alkohol, kein Fleisch, kein Zucker, kein Salz! Niemals betrunken, niemals überessen! Niemals nur ein bisschen über die Schnur hauen! Lebensfreude nur noch beim Frühlingszwiebel-Festival im Genossenschaftsstübchen!“ empört sich ein Leser. „Wie gefährlich ist es, in einer deutschen Großstadt zu leben und dort u.a. bei Inversionswetterlage Feinstaub einzuatmen?“ fragt ein anderer zynisch mit Blick auf die Gesundheitsgefährdung. Die meisten Leserbeiträge waren sich einig: „Dosis sola facit venenum“ (nur die Dosis macht das Gift). Das wissen schließlich alle Genießer schon immer und richten ihr Konsumverhalten danach, selbstverständlich auch beim Alkohol. Niemand muss dann mit der jahrtausendealten europäischen Trinkkultur brechen und kann sich geschichtsbewusst an seinem Châteauneuf-du-Pape oder Riesling u.a. erfreuen.
Bei einer Recherche zum asiatischen Getränk namens „Kumyss“, welches aus vergorener Stutenmilch gewonnen wird, ist mir aufgefallen, dass dessen pharmakologische Wirkung der des Weines sehr ähnlich ist, sein Alkoholgehalt allerdings nur 2,5 Vol.-% beträgt. Haben wir im europäischen Kulturraum den Alkoholkonsum seit Jahrtausenden vielleicht dermaßen übertrieben, dass wir eine genetisch vermittelte Alkoholtoleranz entwickelt haben? Alkohol ist ein für den Menschen physiologisches Produkt: unser Blut hat eine „natürliche“ Alkoholkonzentration von <0,03 ‰. Diese wird hervorgerufen durch Vergärung von Zucker im Darm. Außerdem nehmen wir, völlig unbeabsichtigt, regelmäßig Alkohol zu uns. Es gibt nämlich sog. „verdeckte Alkoholquellen“, diese stammen aus so unverdächtigen Nahrungsmitteln wie z. B. Fruchtsäften, Obst und Milchprodukten. In diesen werden ganz natürlich Frucht- oder Milchzucker durch Hefen in kleinen Quantitäten vergoren. Auch Getränke wie „alkoholfreies“ Bier oder „alkoholfreier“ Wein können noch, ganz legal, einen Restalkoholgehalt von 0,5 Vol.-% bzw. darunter enthalten. Offensichtlich hat der menschliche Organismus wirksame Methoden, das „Gift“ Alkohol zu neutralisieren und für den Körper unschädlich zu machen. Es ist nicht einzusehen, warum diese Entgiftungsprozesse nicht auch bei moderaten zu sich genommenen Mengen „Genussalkohol“ aktiviert werden können.
Fast jeder Autor, der sich des Themas Alkohol und Gesundheit annimmt, ist zu dem Schluss gekommen, dass die Genießer die medizinischen Risiken des Alkoholkonsums für sich selbst abwägen und ihr Trinkverhalten dementsprechend anpassen müssen. Belehrungen, wie in dem kürzlich erschienenen Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, DGE e.V. (Richter M. et al. Ernährungs Umschau 2024) zu unserem Umgang mit dem Alkohol, sind redundant, weil sie keine neuen Informationen oder Gesichtspunkte in den Diskurs bringen. Im Hintergrund schwebt die große Angst vieler Weinfreunde vor staatlicher Regulierung. Nicht die Politik, sondern das Individuum selbst soll über seine persönlichen Freuden und Leiden als Konsequenz seines Handelns entscheiden dürfen.
In der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat“ zum Thema „Europas Plan gegen den Krebs“ vom 3.2.2021 werden unter Paragraph 3.3 verschiedene Maßnahmen zur „Verringerung des schädlichen Alkoholkonsums“ vorgeschlagen, unter denen sich solche Empfehlungen wie eine verpflichtende Angabe von Inhaltsstoffen und gesundheitsbezogene Warnhinweise auf Etiketten alkoholischer Getränke befinden. Hinzu kommt die Anregung zur Überarbeitung und Synchronisation der Rechtsvorschriften für die Alkoholbesteuerung innerhalb der Europäischen Union. Das sind relativ milde Vorschläge zur Regulierung unseres Alkoholkonsums, die vermuten lassen, dass die Lobby der einflussreichen Getränkeindustrie bei ihrem Zustandekommen ein mächtiges Wort mitgeredet hat. Auch den nationalen Finanzministerien muss sehr an dem Weiterbestehen der gegenwärtigen Alkoholsteuereinnahmen in Milliardenhöhe gelegen sein. Trotzdem ist positiv zu bewerten, dass Debatten über den Alkoholkonsum die gegenwärtige Sicht auf die Thematik mal wieder ins Bewusstsein der Genießer bringen. Ich befürchte allerdings, dass man bei einer zu positiven Gesinnung zum Alkoholkonsum heute das Risiko eingeht, sehr schnell „gecancelt“ zu werden. Die „Kultur der Absage“ (Cancel Culture) ist eine Bedrohung auch für den Genusstrinker, denn seine Leidenschaft untergräbt vermeintlich die Volksgesundheit und ist daher moralisch verwerflich. Ist das tatsächlich die Wahrheit oder nur der Beginn einer Meinungszensur, bzw. einer ungewünschten Bevormundung der Bürger?
Dr. Peter Hilgard
Links für zusätzlichen, themenbezogenen Lesestoff:
https://oeno-one.eu/article/view/7838
https://www.dge.de/wissenschaft/stellungnahmen-und-fachinformationen/positionen/alkohol
Frau Uta Gotschlich hat folgende Meinung dazu …
——
Das Thema Alkohol distanziert zu betrachten geht also auch am CV nicht vorbei. Oder nur der dry January?
Spannender Artikel aber die Färbung ist durch und durch.
Wenn das Individuum selbst entscheiden soll, ob es Alkohol zu sich nimmt oder nicht, dann muss das I auch komplettes Wissen über die Risiken haben und unvoreingenommen sein.
Diese beiden punkte sind in unserer heutigen Zeit und Gesellschaft aber schon nicht gegeben!
Zwänge, falsch Vorstellungen, Unwissen oder hohle Versprechen sind im Übermaß vorhanden.
Alleine der vorletzte Satz zeigt das Dr. Hilgard wohl nur den eigenen Genuss verfolgt.
Zu guter letzt, wenn das I für sich entscheidet soll es auch die individuellen Kosten des Alkoholgenuss tragen. Die werden in der Regel aber von der Gesellschaft übernommen.
Generieren also Krankenkassen und Gesellschaft den eigentlichen Gewinn der Winzer und Spirituosenhersteller?
Ich finde ja.
In diesem Sinne einen schönen klaren Sonntag!
Uta Gotschlich
http://www.centeroflife.de
——
Hallo Frau Gotschlich,
Sie haben völlig Recht: ich bin ein passionierter Weingenießer und genau deswegen habe ich den Artikel geschrieben. Nicht als Entschuldigung, sondern als Erklärung. Ich nehme für mich in Anspruch, dass ich die Risiken des Alkohols kenne und abschätzen kann, stimme aber mit Ihnen überein, dass noch erhebliche Aufklärungsarbeit darüber in der Gesellschaft stattfinden muss. Ein Prozess, der ja gerade stattfindet.
Die Folgekosten des Alkoholgenusses den jeweiligen Konsumenten aufzubürden halte ich für nicht durchsetzbar. Über 30 % aller Krankheiten sind Ernährungsbedingt, sollen etwa die Diabetiker, Fettleibigen oder Krebskranken für ihr (möglicherweise „selbstverschuldetes“) Leiden auch zur Kasse gebeten werden?
Danke für Ihren Kommentar!
Peter Hilgard